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Experteninterview mit Prof. Dr. Hans J. Lietzmann

Foto von Prof. Dr. Hans J. Lietzmann

Prof. Dr. Hans J. Lietzmann, Politologe an der Universität Wuppertal und Experte für Bürgerbeteiligungsprozesse, über die Voraussetzungen gelingender Beteiligungsprozesse, die Chancen für Politik und Bevölkerung und einen grundlegenden Wandel in der Gesellschaft.

Wenn von Teilhabe an politischen Prozessen die Rede ist, kommt immer wieder die Frage auf, wie viele Menschen sich überhaupt beteiligen möchten. Können Sie sagen, ob sich die Zahl derjenigen, die sich mehr Mitbestimmung wünschen, in den letzten Jahren eher erhöht oder gesenkt hat?

Sie hat sich in den letzten 15 bis 20 Jahren massiv erhöht. Ein Grund dafür ist sicherlich, dass die heutige Gesellschaft besser ausgebildet ist. Nicht alle sind Elite-Gymnasiasten, aber inzwischen haben sehr viele die Kompetenz, sich Informationen zu suchen und auch das Gefühl, mitreden und mitbestimmen zu können. Früher gab es oftmals die Familientradition, eine bestimmte Partei zu wählen. Heute aber ist die Gesellschaft viel heterogener, flüchtiger geworden. Das verändert auch die Atmosphäre, in der Politik betrieben wird. Das politische System wird flüssiger. Es kommen vermehrt freie Aushandlungsprozesse zu einzelnen Themen dazu.

Was sind Anlässe, die Menschen motivieren, sich in politische Entscheidungsprozesse einzubringen?
Es muss ihnen auf den Nägeln brennen. Häufig geht es um sehr konkrete Konflikte – unerwünschte Veränderungen in der Umgebung, aber auch um sich verändernde Bedürfnisse in der Bevölkerung. Planungen, die einen Teil der Gesellschaft stärker betreffen als einen anderen. Wenn wir zum Beispiel von neuen Übertragungsnetzen oder Hochspannungsleitungen sprechen. Da sind diejenigen natürlich viel stärker betroffen, bei denen die Leitungen langgehen, als diejenigen, die den Strom haben wollen. Meistens gehen wir also von konkreten Problemen aus. Sie motivieren Menschen, aktiv zu werden.

Wie gelingt es, möglichst unterschiedliche Gruppen an einen Tisch zu holen?

Bei strukturierten Beteiligungsverfahren rekrutieren wir zufällig ausgesuchte Gruppen über das Einwohnermeldeamt. So erhalten wir eine sehr hohe Repräsentativität der Beteiligten – ganz anders als bei Bürgerversammlungen, zu denen meist die üblichen Verdächtigen kommen. Dieses Auswahlverfahren kommt dem Bevölkerungsdurchschnitt näher und – ganz wichtig – es sind nicht nur die direkt Betroffenen vertreten. In der Regel werden da sehr faire Kompromisse ausdiskutiert. Nicht unmittelbar Betroffene können besser abwägen.

Worin liegt der ganz pragmatische Nutzen von Bürgerbeteiligung?

Man findet in diesen Beteiligungsverfahren einen unglaublichen Kreativitätspool. Wir planen derzeit zum Beispiel ein neues Stadtviertel in München. Da kommen mithilfe von Bürgerbeteiligung Ideen hervor, die die Stadtverwaltung so nicht gehabt hätte. Bürgerbeteiligung verfügt über eine ganz andere Dynamik. Es kommen immer wieder sehr originelle und ausgesprochen kluge Vorschläge zustande.

Welche Voraussetzungen muss die Politik schaffen, damit Bürgerbeteiligung gelingen kann?

Die Beteiligungsverfahren müssen transparent und nachhaltig in die Entscheidungsfindung eingebunden sein. Das heißt, die Verwaltung erkennt die Ergebnisse der Beratungen an und berücksichtigt sie. Das heißt aber nicht, dass Ergebnisse von Beteiligungsprozessen eins zu eins umgesetzt werden müssten. Aber: Wenn wichtige Entscheidungen nicht gemeinsam getroffen werden, fällt die Gesellschaft auseinander. Wir müssen uns also überlegen, wie wir möglichst unterschiedliche Stimmen in die anstehenden Gemeinwohlentscheidungen einbringen und einbinden.